Zweiter Weltkrieg und Holocaust in den erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskursen Ostmittel- und Osteuropas nach 1989/1991
Projektleiter: Dr. Paul Srodecki, Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Projekttyp: Tagungsförderung
Fördersumme: 4 Tsd. Euro
Veranstaltung: Kiel, 27. bis 28. September 2019
Zweiter Weltkrieg und Holocaust in den erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskursen Ostmittel- und Osteuropas nach 1989/1991
Projektleiter: Dr. Paul Srodecki, Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Projekttyp: Tagungsförderung
Fördersumme: 4 Tsd. Euro
Veranstaltung: Kiel, 27. bis 28. September 2019
Zusammenfassung
Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 stellt nicht nur aus einer deutschen oder westeuropäischen, sondern allem voran aus einer ostmittel- und osteuropäischen Perspektive eine tiefe Zäsur dar. Nicht umsonst wird die jüngste Geschichte in eine Zeit VOR und NACH dem Zweiten Weltkrieg unterschieden. Tatsächlich führte letzterer wie kein anderer Konflikt zuvor und danach in der Menschheitsgeschichte zu epochalen Umbrüchen nicht nur europäischen, sondern auch globalen Ausmaßes. Er brachte millionenfachen Tod, die Zerstörung von Tausenden Städten und Dörfern, Flucht und Vertreibung wie auch nicht zuletzt die Aufteilung des europäischen Kontinents und in der Folge auch fast der ganzen Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke. Zugleich bot er der Nachkriegswelt die Grundlage für diverse, von Land zu Land unterschiedlich gefärbte Kriegsnarrative, verklärte Heldenmythen und alienisierende Feindbilder. Gerade im sogenannten Ostblock dominierte hier eine von der Sowjetunion vorgegebene Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die die Heroisierung der Roten Armee und die Dämonisierung aller auf der Gegenseite stehenden Parteien vor dem Hintergrund des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu ihrem alles beherrschenden Kern aller erinnerungspolitischen Kriegsnarrative bildete.
Von großer Symbolkraft ist auch das Jahr 1989, das hier freilich nur stellvertretend für den Beginn zahlreicher politischer Umbrüche der darauffolgenden Jahre stehen soll. Neben dem Zusammenbruch des Ostblocks und der kommunistischen, von Moskau abhängigen Volksrepubliken Ostmitteleuropas (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien) waren dies allem voran der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens 1991. Auffällig ist für die meisten hier behandelten Länder eine von den politischen Eliten herbeibemühte Abkehr von der offiziellen kommunistischen Erinnerungspolitik, wie sie noch vor 1989/1991 propagiert worden ist. Auch heute noch gilt in weiten Teilen des östlichen Europas die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als wichtige Orientierungsanker der jeweiligen nationalen erinnerungspolitischen Diskurse.
Den achtzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchs nahmen Paul Srodecki vom Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Abteilung für Osteuropäische Geschichte) in Zusammenarbeit mit Daria Kozlova vom Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Abteilung für Osteuropäische Geschichte) bzw. der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zum Anlass, eine internationale und interdisziplinäre Tagung zu initiieren, die – im Internationalen Begegnungszentrum Kiel ausgetragen – sich vom 27. bis zum 28. September 2019 dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in den erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskursen in Ostmittel- und Osteuropa nach 1989/1991 widmete. Ermöglicht wurde die Konferenz durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Stiftung Friedensforschung, des Nordost-Instituts an der Universität Hamburg sowie nicht zuletzt der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Das Spannungsverhältnis zwischen der im Zuge der Aufarbeitung der ostmittel- und osteuropäischen Diktaturen staatlich angeordneten Desowjetisierung/Dekommunisierung und der gleichzeitigen (Re)Nationalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eröffnete hierbei interessante, den ostmittel- und osteuropäischen Raum umspannende Vergleichsebenen (Beiträge von Elizaveta Gaufman, Nino Chikovani, Pavel Kladiwa, Beáta Márkus oder Frank Golczewski). Ge-rade vor dem Hintergrund der nationalistisch-populistischen Regression und dem Wiedererstarken einer zunehmend aggressiven Rhetorik in den öffentlichen Diskursen, die die Minderheiten in den jeweiligen Staaten exkludiert und die Nachbarstaaten nach außen hin alienisiert, wird die von nationalen Geschichtsbildern geprägte und nur zu oft verklärte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu einem zusehends beliebten Instrument der Innen- wie Außenpolitik der hier behandelten Länder, wie beispielsweise die Beiträge von Paul Srodecki, Goran Hutinec oder Magdalena Nowicka-Franczak zeigten. Die Zwietracht über die unterschiedliche Auslegung von Geschichte, allem voran über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, führte in den letzten Jahren zu zahlreichen politischen Spannungen zwischen den ostmittel- und osteuropäischen Staaten. Von Bedeutung ist somit ebenso das Verhältnis der Geschichtswissenschaft und der Friedens- und Konfliktforschung (wie auch die Instrumentalisierung allem voran ersterer durch eine gestiegene politische Einflussnahme, so u. a. im Falle des „Geschichtsinstituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften“ [Instytut Historii im. Tadeusza Manteuffla Polskiej Akademii Nauk], des „Ukrainischen Instituts für nationales Gedenken“ [Ukrajinskyj Instytut Nacional’noji Pam’jati] oder des „Ungarischen Komitees der Nationalen Erinnerung“ [Nemzeti Emlékezet Bizottság], um nur einige wenige zu nennen) in den jeweiligen Ländern zur erinnerungskulturellen Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Dabei ist ein Differenzieren zwischen Ländern unter Besatzungsregime und Ländern, die mit den Achsenmächten kollaborierten und/oder im letzten Moment die Seiten wechselten von großer Bedeutung.
Weitere Untersuchungsgegenstände boten während der Konferenz auch das Fehlen beziehungsweise eine zumindest nur teilweise Aufarbeitung oder gar Heroisierung der jeweiligen Kollaborationen mit dem nationalsozialistischen Deutschland wie auch eine bisher nur unzureichend stattgefundene kritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust in weiten Teilen Ostmittel- und Osteuropas. Einen ganz besonderen Platz nahm während der Tagung die Analysierung der erinnerungspolitischen Aufarbeitung des Holocausts im östlichen Europa nach 1989/1991 ein – eines Themas, das in der Sowjetunion (Beiträge von David Feest, Joachim Tauber, Georgy Kasianov, Daria Kozlova, Aliaksandr Dalhouski und Katja Wezel) und seinen sozialistischen Satellitenstaaten (Beiträge von Magdalena Nowicka-Franczak und Melina Hubel) wie auch in Jugoslawien (Beitrag von Goran Hutinec) marginalisiert wurde, indem es aus dem gesellschaftlichen Diskurs weitgehend rausgenommen wurde. Die Frage der Mitschuld beziehungsweise Mitbeteiligung am Holocaust wurde und wird in weiten Teilen Ostmittel- und Osteuropas immer noch tabuisiert oder gar vom Staate unter Strafe gestellt, wie etwa das polnische Holocaust-Gesetz von 2018 beweist. Eine tragende Rolle sollten hierbei nach den politischen Umbrüchen 1989 und in den frühen 1990er Jahren die zahlreichen jüdischen NGOs spielen, die nur zu oft eigeninitiativ und ohne offizielle staatliche Unterstützung die Erinnerung an den Holocaust im öffentlichen Raum aufrechterhielten.
Die Konferenz wurde bewusst als ein interdisziplinäres Treffen konzipiert, das die oben aufgeworfenen, von einer besonderen politischen Aktualität geprägten Themenbereiche mittels historischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Zugänge beleuchten und die Ergebnisse vergleichend gegenüberstellen konnte. Diese Multiperspektivität ermöglichte es, die mannigfaltigen erinnerungspolitischen und öffentlichen Diskurse zum Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in neuen Zusammenhängen und neuen Akzentuierungen wahrzunehmen und so die zahlreichen geschichtspolitischen Konfliktherde in dem behandelten Raum besser analysieren zu können. Zum anderen ist die Konferenz als Versuch zu werten, anhand der interdisziplinären Überprüfung und Gegenüberstellung der verschiedenen erinnerungspolitischen Krisenfelder (Polen – Ukraine, Ungarn – Slowakei – Rumänien, Russland – Ukraine, Russland – Ukraine – Moldawien – Transnistrien, Russland – Litauen – Lettland – Estland, Polen – Tschechien, Polen – Litauen, Polen – Israel, Ukraine – Israel, Ungarn – Israel etc.) Voraussetzungen erfolgreicher Krisenprävention zu synthetisieren. Die Originalität der Tagung bestand zu guter Letzt darin, einen ersten länderübergreifenden Vergleich der erinnerungskulturellen und – politischen Umbrüche am Beispiel des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts in Ostmittel- und Osteuropa zu wagen. Die interdisziplinäre Herangehensweise stellte dabei durchaus ein Novum dar, wurde doch die hier vorgestellte Problematik bisher zumeist von politik- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen dominiert, ohne dass für den gesamten ostmittel- und osteuropäischen Raum eine zusammenfassende, disziplinübergreifende Gegenüberstellung der einzelnen Akteure erarbeitet worden wäre. An die oben aufgeführten Ansätze der Versöhnungsforschung anknüpfend konnte somit mit einer Zusammenführung der verschiedenen Perspektiven ein qualitativ verstärkter analytischer Zugang gerade zum Problemfeld der erinnerungspolitischen Konfliktlösung und Krisenprävention im östlichen Europa geleistet werden.
Die Tagungsergebnisse sollen – um weitere exemplarische Studien zu weiteren postsozialistischen Ländern erweitert – als Sammelpublikation unter dem leicht modifizierten Titel „War and Remembrance. World War II and the Holocaust in the Memory Politics and Public Historical Discourses of East Central and Eastern Europe after 1989/1991” innerhalb der renommierten „War (Hi)Stories”-Reihe des Brill/Schöningh-Verlags erscheinen.