Publikation
Heinemann-Güder, Andreas, 2018: „Ressourcen und Grenzen der Macht Personalistische Regime in Russland und der Türkei“, in (Osteuropa 10-12/2018, 107–118).
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Zusammenfassung
Sozialwissenschaftler beobachten seit Jahren, dass die Demokratisierung in den Ländern der sogenannten Dritten Welle ins Stocken geraten ist. Es zeichnet sich sogar ein Trend zurück zum Autoritarismus ab. Indikatoren dieses globalen Trends sind zunehmender Nationalismus und Paternalismus, eine Personalisierung und Polarisierung der Politik, die Politisierung der Religion, die Entmachtung der Parlamente, die Einschränkung der Medienfreiheit und die Unterdrückung der Zivilgesellschaft. Dies färbt auch auf die außenpolitische Orientierung und das Verhalten dieser Staaten auf der internationalen Bühne ab. Die Konferenz nimmt diese Themen mit einem speziellen Fokus auf Russland und die Türkei in den Blick – Staaten mit erheblichem Einfluss auf die sicherheitspolitische Lage in Europa und im Nahen Osten sowie auf die Innenpolitik zahlreicher europäischer Staaten.
Diese autoritäre und populistische Regression ist überall von einer Rückkehr des Nationalismus gekennzeichnet, der offensichtlich autokratische Regime stärkt und liberale schwächt. Protektionismus, die Neigung zu militärischen Interventionen, die gezielte Verbreitung von Feindbildern, die Mobilisierung von konationalen Gruppen jenseits der Grenzen des jeweiligen Nationalstaats und Rüstungswettläufe sind die Folge. Russland und die Türkei sind einschlägige Beispiele dieser Entwicklung. Es zeigen sich erhebliche Parallelen, aber auch Unterschiede. Gegenwärtig sind beide Staaten nicht mehr als defekte Demokratien zu bezeichnen, in denen zumindest Wahlen noch einen offenen Ausgang haben, sondern als elektorale Autokratien. Die Gründe, Konsequenzen und politischen Implikationen für das Konfliktverhalten und die Sicherheitslage sind bislang kaum erfasst, ganz zu schweigen davon, dass der Westen eine gemeinsame Strategie entwickelt hätte, wie damit umzugehen wäre.
Das Ziel der interdisziplinären Konferenz mit internationaler Besetzung, insbesondere auch aus der Türkei und Russland, ist ein Vergleich der politischen Systeme der beiden Staaten und der sozialkulturellen Grundlagen der Innen- und Außenpolitik der beiden Staaten. Ausgehend von den Kategorien der vergleichenden Regimeanalyse werden Formen und Praktiken des Regierens untersucht und historische, wirtschaftliche sowie kulturelle Determinanten der Entwicklung dieser beiden Staaten bestimmt. Darüberhinaus werden die gängigen Theorien zum außenpolitischen Verhalten von Staaten auf ihre Anwendbarkeit auf diese Staaten geprüft, insbesondere Ansätze, die Außenpolitik als eine Funktion der Innenpolitik betrachten.
Die Rückkehr autoritärer Politik ist kein einheitliches Phänomen. In der Türkei hat die konservativ-religiöse Partei die Armee der Rolle eines Vetoakteurs mit innenpolitischer Interventionsmacht beraubt. Sie profitiert von der Schwäche der linken und zentristischen Parteien und hat in großem Stil in die ökonomische Entwicklung des Landes investiert. Die AKP hat unter Präsident Erdoğan durch Investitionen in die Infrastruktur des Landes, in die sozialen Sicherungssysteme und in das Bildungssystem sowie durch ihre ursprüngliche Bereitschaft zu Verhandlungen mit den Kurden viele Menschen für sich gewonnen. Heute ist die Öffentlichkeit in der Türkei gespalten. Der Militärputsch im Jahr 2016 hat gezeigt, dass weite Teile des Sicherheitssektors nicht unter ziviler Kontrolle stehen. Nach dem Scheitern des Putsches wurde dieser zum Vorwand genommen für eine systematische „Säuberung“ im öffentlichen Dienst sowie im Medienbereich.
In der Außenpolitik waren Russland und die Türkei bis vor einigen Jahren Partner der Europäischen Union. Diese Orientierung haben sie aufgegeben und streben an, Gravitationszentren in ihrer „historischen“ Nachbarschaft zu werden, im Falle Russlands also in „Eurasien“, im Falle der Türkei im Raum des ehemaligen Osmanischen Reichs. Die Beziehungen der beiden Staaten zu ihren Nachbarn sind heute durch eine offensive und von militärischen Interventionen geprägte Politik gekennzeichnet. Die Beziehungen der beiden Staaten untereinander oszillieren zwischen Kooperation und heftiger Konkurrenz. Vor allem in Syrien prallen die Interessen Moskaus und Ankaras aufeinander.
Es spricht vieles dafür, dass eine autoritäre Entwicklung der Innenpolitik die Außenpolitik mehr prägen als allgemeine Strukturmerkmale des internationalen Systems. Da kein Konsens über die Normen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) mehr herrscht und die Institutionalisierung der internationalen Beziehungen schwach ist, ist es eine erstrangige Aufgabe der Friedens- und Konfliktforschung langfristige innenpolitische sowie aus dem internationalen System abzuleitende Faktoren zu identifizieren, die hinter der skizzierten Entwicklung stehen und die politischen Konsequenzen zu benennen. Die allgegenwärtigen Aufrufe zu Dialog, Diplomatie und Kooperation könnten die Regimedynamik in diesen Ländern sowie die Bedeutung der antagonistischen Werteorientierung für die Außenpolitik Russlands und der Türkei unterschätzen. Politikempfehlungen für den Umgang mit solchen Regimen reichen von Eindämmung und Abschreckung bis zu friedlicher Koexistenz. Die Diskussion der entsprechenden politischen Optionen sollte auf einer Analyse der innenpolitischen Situation in Russland und der Türkei, nicht auf bloßem guten Willen und falscher Toleranz beruhen.
Abstract
For years, social scientists have observed a stagnation of the third wave of democratization, if not a renaissance of authoritarianism. Indicators of this global trend are nationalism, personalized, highly polarized and patronal politics, politicized religion, the disempowerment of parliaments, encroachments on independent media, and the suppression of autonomous civil society. Respective domestic developments impact upon orientations and preferences in the conduct of foreign policy. The conference is concerned with this fundamental problematic with a particular focus on Turkey and Russia ‑ countries that influence European and Middle Eastern security policy to a significant degree, but impact on domestic policies in European countries, too.
The most common feature of the authoritarian and populist regression is the return of nationalism, which seems to strengthen autocratic regimes and to weaken liberal ones. Protectionism, military interventionism, projections of images of the enemy, the mobilization of co-ethnics abroad, and new arms races ensue. Recent developments in Russia and Turkey are cases in point and show significant parallels as well as differences. Currently, both countries resemble electoral autocracies rather than deficient democracies with open-ended elections as minimum criteria. The causes, consequences and political implications for conflict behavior and security are not well understood yet, not to speak of a common strategy by a fragmented West.
The goal of the international and interdisciplinary conference, which includes contributors from Russia and Turkey, is a comparison of political orders and cultural-societal foundations in Russia and Turkey that inform the foreign policy of the respective countries conduct. Building upon paradigms of comparative regime analysis, forms and practices of governance will be analyzed and its historical, economic, and cultural determinants be scrutinized. Standard theories of foreign policy conduct will be tested for their plausibility, this particularly pertains to approaches that treat foreign policy as a function of domestic politics.
The return to authoritarian politics is not a uniform phenomenon. In Turkey a conservative-religious party, the AKP, sidelined the traditional veto or interventionist power of the military, capitalized on the decline of left of the centre parties and invested heavily into development. In comparison to its predecessor regimes, the AKP under president Erdogan gained domestic credit through its investments into infrastructure, social welfare, education, and the initial preparedness to negotiate with the Kurds. Public opinion is roughly split into two halves. The military putsch in 2016 demonstrated the lack of civil control over significant parts of the security sector. The suppression of the putsch turned into the pretext for a systematic „cleansing“ of public services and the media.
In foreign policy both Russia and Turkey departed from their initial partnership with the European Union and oriented themselves towards becoming gravitational centers in their „historical“ neighborhood, i.e., „Eurasia“ in the case of Russia and the former Ottoman empire in the case of Turkey. Assertive and military interventionist politics characterize in significant parts the relationships of both countries with their neighbors. In their mutual relationship, both countries change between cooperation and fierce competition, especially their respective policies in Syria clash.
Arguably, authoritarian developments in domestic politics shape the conduct of foreign policy more than structural features of the international system as such. Since shared norms of the Organization for Security and Cooperation erode and since institutionalization of international relations proves to be weak it is of prime concern for peace and conflict research to identify long-term domestic and systemic drivers of these trends and to spell out their political consequences. Frequent calls to invest in dialogue, diplomacy, and cooperation may underestimate the substance of underlying regime dynamics and of antagonistic values for conflict behavior. Policy recommendations for responding to regime radicalization usually range from containment and deterrence to peaceful coexistence. The discussion of respective policy options should be based on an analysis of domestic determinants instead of mere good will and voluntarism.