Interview mit Ulrike Krause und Nadine Segadlo
Frauen, Flucht – und Frieden?
Das Team von Prof.in Dr.in Ulrike Krause, Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster, ging in dem von der DSF geförderten Forschungsprojekt einer bislang kaum beachteten Forschungsfrage nach: Welche Bedeutungen hat Frieden aus Sicht von Frauen, die nach konfliktbedingter Flucht in Flüchtlingslagern leben? Ulrike Krause und die Projektmitarbeiterin Nadine Segadlo geben auf Fragen der DSF Einblicke in die zentralen Erkenntnisse ihrer Forschungsarbeit.
Interview mit Ulrike Krause und Nadine Segadlo
Frauen, Flucht – und Frieden?
Das Team von Prof.in Dr.in Ulrike Krause, Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster, ging in dem von der DSF geförderten Forschungsprojekt einer bislang kaum beachteten Forschungsfrage nach: Welche Bedeutungen hat Frieden aus Sicht von Frauen, die nach konfliktbedingter Flucht in Flüchtlingslagern leben? Ulrike Krause und die Projektmitarbeiterin Nadine Segadlo geben auf Fragen der DSF Einblicke in die zentralen Erkenntnisse ihrer Forschungsarbeit.
In Ihrem Projekt Frauen, Flucht – und Frieden? haben Sie sich mit den friedensfördernden Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern auseinandergesetzt. Frieden steht im Mittelpunkt Ihrer Forschung. Können Sie als Einstieg kurz skizzieren, mit welchen Belastungen Frauen im Flüchtlingslager konfrontiert sind? Welche Bewältigungsstrategien entwickeln Frauen in Flüchtlingslagern?
Ulrike Krause: Flüchtlingslager dienen der kurzfristigen Unterbringung und Unterstützung von Geflüchteten, doch müssen Menschen dort oft über Jahre oder Jahrzehnte leben. Humanitäre und politische Akteur*innen unterhalten die Lager und bieten häufig nur sehr begrenzte Hilfsmaßnahmen an. So stellen Lager höchst restriktive Räume dar, in denen Geflüchtete häufig Gewalt und Unsicherheiten, prekäre Lebensbedingungen und unzureichende Zukunftsperspektiven erfahren. Die Forschung zeigt, dass Frauen in Lagern besonders hohen Risiken ausgesetzt sind, darunter sexualisierte und geschlechterspezifische Gewalt, Diskriminierung und eingeschränkter Zugang zu grundlegenden Ressourcen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Diese Probleme bedeuten jedoch keinesfalls, dass sich Frauen passiv fügen. Vielmehr entwickeln sie vielfältige individuelle und kollektive Strategien, um ihren Alltag zu bewältigen und Handlungsspielräume zu schaffen. Ein zentraler Aspekt dabei ist die Bildung und Nutzung sozialer Netzwerke, z.B. durch Familie, Freund*innen oder Nachbarschaft, aber auch in Form von Unterstützungsgruppen wie Spargruppen oder wirtschaftlichen Kooperationen. Diese Verbindungen sind wichtige Ressourcen für gegenseitige Unterstützung und stärken das Gemeinschaftsgefühl.
Darüber hinaus entwickeln Frauen selbstverständlich auch eigenständig Handlungsstrategien, je nach individuellen Möglichkeiten, Interessen und strukturellen Verhältnissen. Sie schaffen sich etwa Einkommensquellen, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und ihre Familien zu unterstützen. Zum Schutz gestalten sie sichere Rückzugsorte, leisten aber auch Widerstand. Dazu gehören mitunter Proteste gegen Ungleichheiten, um ihre Sicherheit und Rechte zu stärken. Auch politisches Engagement und die Forderung nach Mitbestimmung in lokalen Entscheidungsprozessen spielen eine wichtige Rolle.
Welche Rolle spielen Konflikt und vor allem auch Frieden in der Forschung über Flucht und Flüchtlingslagern?
Nadine Segadlo: Weltweit fliehen Menschen primär vor Gewaltkonflikten und suchen anderswo Schutz. Zahlreiche Forschungsarbeiten zu diesem Konflikt-Flucht-Nexus zeigen die Mehrdimensionalität der Verbindung von Konflikt und Flucht. Hierbei beobachten wir einen starken Fokus auf Gewalt. Konfliktbedingte Gewalt zwingt Menschen nicht nur dazu, ihre Herkunftsorte zu verlassen, sondern bleibt häufig auf der Flucht und in Aufnahmesituationen bestehen. Anhaltende und neue Gefahren, wie Ausbeutung, Überfälle, Unsicherheiten, mangelnder Zugang zu Wasser und Nahrung sowie geschlechterspezifische Gewalt, treffen geflüchtete Frauen in besonderem Maße. Sie können Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen durch Grenzpolizei, Schmuggler, Helfende oder anderen Geflüchtete ausgesetzt sein. Auch in Flüchtlingslagern, die eigentlich dem Schutz der Menschen dienen sollen, bleibt sexualisierte und geschlechterbasierte Gewalt oft ein großes Problem, das sich durch die lokalen Abhängigkeiten, Einschränkungen und Bedrohungen wie rassistische Gewalt weiter verstärken kann.
Welche Bedeutung messen Frauen, die Konflikt und Flucht erlebt haben, Frieden bei? Während der Konflikt-Flucht-Nexus seit Jahrzehnten weitreichend untersucht wird, bleibt Frieden ein untergeordnetes und unzureichend erforschtes Phänomen. Die wenigen Studien, die Frieden zum Thema machen, betonen entweder die Notwendigkeit, Flüchtlingsschutz mit Friedensförderung zu verbinden, betrachten Frieden als Voraussetzung für die Rückkehr von Geflüchteten in ihre Herkunftsländer oder setzen sich mit ‚Friedensbildung‘ in humanitären Programmen auseinander.
Paradoxerweise werden Geflüchtete mitunter sogar als Bedrohung für Frieden wahrgenommen. Obwohl Menschen primär wegen gewaltsamer Konflikte fliehen, diskutieren vereinzelte Studien, wie sich Konflikte durch Flucht ausbreiten können. Dies birgt die Gefahr, Geflüchtete als destabilisierende Kräfte für Frieden darzustellen.
An dieser Forschungslücke knüpfen wir mit unserem Projekt an. Wir wollen eine Abkehr vom inhärenten Gewaltfokus im Konflikt-Flucht-Nexus schaffen und Frieden in den Mittelpunkt unserer Forschung rücken.
Welche Schwerpunkte haben Sie im Projekt gesetzt und welche Erkenntnisse zur Bedeutung von Frieden für Frauen in Flüchtlingslagern erzielt?
Ulrike Krause: Unser Ziel war es, die Friedensbedeutungen von Geflüchteten und speziell Frauen auf konfliktbedingter Flucht zu untersuchen, sowie ihre Praktiken für friedliche Verhältnisse und die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Friedensbemühungen zu ergründen.
In öffentlichen Debatten schwingt allzu häufig die Idee mit, Frieden sei die Abwesenheit von Gewalt und Konflikt. Doch die Friedens- und Konfliktforschung zeigt schon seit vielen Jahren, dass Frieden mehr ist. In unserem Projekt haben wir primär mit Geflüchteten in Kenia gearbeitet, die vor allem aus dem Südsudan, Somalia, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda und Burundi stammen und im kenianischen Lager Kakuma leben. Die Forschung haben wir mit einer Untersuchung in Deutschland ergänzt. Die Analyse der Bedeutungen, die Gesprächspartner*innen Frieden beimessen, war das Zentrale. Nahezu alle Gesprächspartner*innen in Kakuma waren vor konfliktbezogener Gewalt in Herkunftsländern geflohen. Jedoch beziehen sie Frieden nicht ausschließlich auf ihre Erlebnisse von Gewalt und Konflikt, sondern teilten überaus vielfältige Friedensauffassungen mit uns, die durch geschlechterspezifische Erfahrungen, religiöse Überzeugungen, familiale Beziehungen und individuelle Emotionen geprägt sind.
Ihre Friedensverständnisse haben wir in drei Bereiche unterteilt: Struktureller, kollektiver und individueller Frieden. Die Gesprächspartner*innen verbinden strukturellen Frieden mit ihren Erfahrungen der sozio-politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen im Exil. Sie betonten dabei die Bedeutung von Sicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten, um strukturellen Frieden erleben zu können. Für Frauen war hier ihr Zugang zu Rechten und ihr Schutz vor Gewalt besonders relevant. Kollektiver Frieden zeigt sich für sie in sozialen Unterstützungssystemen und harmonischen Interaktionen innerhalb der Gemeinschaften. Die Gesprächspartner*innen unterstrichen, wie wichtig sozialer Austausch und gegenseitige Hilfen etwa in Nachbarschaften, Familien, Freundschaften und auch darüber hinaus in Gesellschaften sind, um gemeinsam Frieden zu erfahren.
Individueller bzw. innerer Frieden bezieht sich hingegen auf die Einzelperson und wird mit ihrem Streben nach Glück, Hoffnung und Heilung sowie den damit verbundenen Gefühlen für Frieden verknüpft. Gesprächspartner*innen erklärten etwa, dass Frieden ‚in ihnen‘ beginnen würde, ein ‚state of mind‘, d.h. ein Gemütszustand sei und sie somit Frieden fühlen würden. Dieses Gefühl entsteht nicht von selbst, sondern die Personen setzen sich aktiv dafür ein.
Ganz zentral zeigt sich, dass sie Frieden keineswegs nur als politisches Konstrukt verstehen, das Entscheidungstragende aushandeln, schaffen und herstellen. Vielmehr deuten sie Frieden als wichtigen Teil ihres Alltags, inklusive ihres Hoffens auf Frieden im prekären Umfeld des Flüchtlingslagers.
Wie setzen sich Geflüchtete und insbesondere Frauen für Frieden und friedliche Verhältnisse in Flüchtlingslagern ein?
Nadine Segadlo: Nicht nur die Friedensverständnisse sind sehr vielfältig, sondern auch die Strategien für Frieden, die die geflüchteten Frauen nutzen. Die Ergebnisse unserer Forschung verdeutlichen, dass sie Handlungsstrategien sowohl individuell als auch kollektiv anwenden, um trotz und oft gerade wegen der prekären Bedingungen im Lager friedliche Verhältnisse zu schaffen, aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen. Beispielsweise verlassen sie bewusst gefährliche Situationen, um anderenorts alltäglichen Frieden zu suchen oder zu kreieren. Dies zeigt sich allen voran an ihrer Flucht aus Herkunftsländern, denn sie fliehen nicht nur aufgrund von Gewalt, sondern auch auf der Suche nach Schutz, Sicherheit und Frieden.
Zudem überwinden sie Herausforderungen, indem sie für sich eine Form von friedlicher Normalität etablieren. Diese schaffen sie auch im Lager, indem sie etwa Hobbys nachgehen, soziale Räume mit Familie und Freunden schaffen, Religion praktizieren, gegenseitige Unterstützung bereitstellen und Momente der Ruhe für sich selbst suchen. Damit einhergehend wenden sie kollektive Strategien an, um sich zu organisieren und Frieden lokal zu fördern. Dies beinhaltet neben Bestrebungen zur Stärkung des Zusammenlebens im Lager und das Mitwirken in Repräsentationsstrukturen, um Spannungen zu lösen und friedliche Bedingungen zu fördern, auch Praktiken, die ihr mentales Wohlergehen betreffen. Frauen verweisen etwa darauf, wie sie Austauschmöglichkeiten und Netzwerke etablieren, wo sie sich gemeinsam stärken und Herausforderungen teilen. Zudem gehen sie individuell und gemeinsam aktivistisch gegen Ungerechtigkeiten und Einschränkungen vor, in dem sie für ein Miteinander und gegen strukturelle Restriktionen aufstehen.
An diesen und vielen weiteren Beispielen konnten wir zeigen, dass Frieden für geflüchtete Menschen, besonders für Frauen, kein außergewöhnliches Unterfangen ist, für das es externe Interventionen oder Maßnahmen humanitärer Organisationen bedarf. Vielmehr erfassen sie Frieden als integralen Bestandteil ihres Alltags. Sie schaffen für sich und für andere Momente und Räume des Friedens oder stellen diese (wieder) her.
Zwar sind die Erfahrungen von Konflikt, Flucht und Leben im Lager prägend für ihre Friedenspraktiken, dennoch reagieren sie nicht nur darauf, sondern initiieren proaktiv friedlichen Alltag und Wandel. Damit zeigen sie, wie sie sich – entgegen weit verbreiteter Zuschreibungen vermeintlich passiver Opferrollen oder gar der Stigmatisierung als ‚Sicherheitsrisiko‘ – entschlossen für die Gestaltung von Frieden in der Gegenwart und in der Zukunft einsetzen.
Gibt es unerwartete Einsichten, mit denen Sie nicht gerechnet hätten?
Ulrike Krause: Um Frieden in den Mittelpunkt unserer Forschung zu rücken, mussten wir offen und explorativ vorgehen. Wir waren allen voran an den eigenen Verständnissen, Deutungen und Auffassungen unserer Gesprächspartner*innen von Frieden interessiert, sodass wir nicht an Friedensdefinitionen aus der Forschung anknüpfen konnten und wollten. Wie zuvor erwähnt haben wir die Arbeit in Kenia mit Forschung in Deutschland komplementiert. Sie wurde maßgeblich von Hannah Edler umgesetzt. Die Ergebnisse der Gespräche mit Geflüchteten in Deutschland wie auch in Kenia haben wir anschließend verbunden. Höchst interessant war, dass sich trotz der unterschiedlichen Personengruppen und Lebensverhältnisse viele Übereinstimmungen gezeigt haben.
Besonders ist uns aufgefallen, dass Gesprächspartner*innen Frieden regelmäßig mit Emotionen verknüpfen, womit wir als Team nicht gerechnet hatten. Dies haben wir als ‚inneren Frieden‘ erfasst und lässt sich am besten damit erklären, Frieden zu fühlen. Gesprächspartner*innen assoziieren inneren Frieden mit verschiedenen emotionalen Zuständen wie Glück, Freude und Zufriedenheit und beschreiben ihn als Grundlage für ihre Hoffnung auf ein normales Leben, die Bewältigung traumatischer Erlebnisse sowie ihre Motivation für individuelles und kollektives Handeln.
Eine weitere Perspektive betrifft unsere geschlechtersensible Forschung. Auch wenn wir im Projekt den Fokus auf Frauen gelegt haben, war es uns wichtig, einerseits Frauen nicht als besonders friedfertig zu stereotypisieren, und andererseits nicht ausschließlich mit Frauen, sondern auch mit Männern und queeren Menschen zu sprechen. Bereits während der Datenerhebung wurde deutlich, dass Gesprächspartner*innen ähnliche Friedensverständnisse und -praktiken mit uns teilten. Daher lassen sich keine vermeintlich typischen, ausschließlich für Frauen geltenden Perspektiven, identifizieren. Vielmehr prägen die vergeschlechtlichten Verhältnisse die Menschen und ihr Zusammenleben und sie nutzen je nach strukturellen Bedingungen, individuellen Erfahrungen und Möglichkeiten diverse Praktiken. Für queere Menschen, die in Kakuma lebten, war es beispielsweise aufgrund der weitverbreiteten Homo- und Transphobie entscheidend, sich gemeinsam physische Schutzräume zu schaffen, um friedliche Momente erleben zu können.
Wie hängen Ihre Ergebnisse zu lokalen Friedensbemühungen mit internationalen Entwicklungen zusammen?
Nadine Segadlo: Das ist eine sehr interessante Frage, die in meiner Dissertation eine wichtige Rolle spielt. Darin knüpfe ich an das Projekt an, gehe aber deutlich darüber hinaus, indem ich untersuche, welche Bedeutungen Frieden in globalen Policies des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zugeschrieben werden. Konkret analysiere ich, welche globalen Normen dort zum Thema Frieden im Flüchtlingsschutz dargelegt sind und welche Rolle diese im lokalen Schutz von Geflüchteten in Kakuma spielen.
Frieden ist in diesen Policies sehr vage definiert und primär auf die Umschreibung eines sicheren Lebensumfelds Geflüchteter und Asyl als friedliche Institution bezogen. Konkret bedeutet dies, dass der Schutz von ‚friedlichen‘ Individuen im Vordergrund steht. Dies hat weitreichende Implikationen, da eine Einteilung in ‚friedlich‘ und ‚unfriedlich‘ als politische Motivation für den Ausschluss bestimmter Personen(gruppen) genutzt werden kann. Zudem kann es zu einer Instrumentalisierung von geflüchteten Menschen führen, um Sicherheitsparadigmen zu priorisieren – nach politischen Interessen von Aufnahmestaaten und mitunter auch denen humanitärer Organisationen.
Wie die globalen Policies und Normen die lokalen Praktiken in Kakuma prägen, untersuche ich durch den Ansatz der Normlokalisierung. Ich befasse mich also damit, wie globale Normen lokal im Flüchtlingslager behandelt, interpretiert, umgesetzt oder herausgefordert werden.
Humanitäre Organisationen nehmen vielfältige Maßnahmen etwa zur ‚Friedensbildung‘ in Kakuma vor, um Geflüchtete für Frieden zu ‚sensibilisieren‘ bzw. zu ‚erziehen‘. Das ist höchst problematisch, denn es wird implizit angenommen, dass Geflüchtete vermeintlich unfriedlich und gewalttätig seien und erst durch diese Interventionen Wissen über Frieden und Friedensbewahrung erlangen würden. Zusätzlich zu den erniedrigenden Zuschreibungen rufen solche humanitären Maßnahmen für Geflüchtete meist weitere Restriktionen hervor. Sie intensivieren bestehende Machtverhältnisse im Lager, denn letztlich definieren die Mitarbeitenden der Organisationen und Behörden, was Frieden und friedlich bedeutet, und nicht die geflüchteten Menschen. Ihre eigenen vielschichtigen Perspektiven werden also nicht berücksichtigt.
Der eklatante Unterschied zwischen den unterschiedlichen Friedensauffassungen geflüchteter Menschen und denen der kenianischen Regierung bzw. der humanitären Organisationen zeigt sich ganz aktuell an friedlichen Protesten in Kakuma. Ende Februar 2025 begannen Geflüchtete, gegen Wassermangel und die 40%-Kürzung der monatlichen Essensrationen zu demonstrieren. Diese Kürzungen resultieren aus globalen Entwicklungen und insbesondere dem jüngsten Rückzug der USA aus der humanitären Hilfe. Am 3. März reagierte die kenianische Polizei mit Gewalt gegen die friedlichen Proteste, wobei mehrere Menschen verletzt und Ausgangssperren verhängt wurden. Paradoxerweise zielt diese Reaktion, inklusive der Ausgangssperre, explizit darauf ab, Frieden, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Doch das steht im Kontrast zu den eigenen Perspektiven der Menschen. Ihre Vorstellungen von Frieden sind durch die Kürzungen und die Gewalt massiv beeinträchtigt. Dies behindert nicht nur ihren strukturellen Frieden, sondern wirkt auch auf ihren kollektiven und individuellen Frieden.
Wem bieten die Ergebnisse Hilfestellung?
Ulrike Krause: Unsere Ergebnisse richten sich neben der wissenschaftlichen Community auch an Praktiker*innen im globalen Flüchtlingsschutz, politische Entscheidungstragende und die weite Öffentlichkeit. Mit der Erweiterung des Konflikt-Flucht-Nexus um Frieden haben wir eine Aufmerksamkeit dafür geschaffen, wie wichtig Frieden für Geflüchtete ist. Aktuelle politische Debatten in Deutschland und vielen anderen Staaten weltweit sind zunehmend von rechtlichen, politischen und sozialen Restriktionen geprägt. Negative Darstellungen von Geflüchteten und Gefahrennarrative beherrschen die Debatten. Diese Sichtweisen verengen den Blick auf Flucht und Geflüchtete und blenden deren eigene Erfahrungen und insbesondere auch Friedenspraktiken aus. Unsere Forschung zeigt hingegen, dass Geflüchtete aktiv zu Frieden beitragen – sei es durch Gemeinschaftsbildung, politischen Aktivismus oder alltägliche Strategien des Zusammenlebens. Indem wir diese Aspekte sichtbar machen, möchten wir zu einer differenzierteren Debatte beitragen und Handlungsspielräume für eine evidenzbasierte, menschenrechtsorientierte und solidarischere Asylpolitik aufzeigen.
Nadine Segadlo: Dafür teilen wir die Ergebnisse mit unterschiedlichen Akteur*innen. Mit Blick auf politische Entscheidungstragende und humanitäre Praktiker*innen wird deutlich, wie unerlässlich es ist, die gelebten Erfahrungen, Friedensverständnisse und -praktiken von Geflüchteten in die Gestaltung von Maßnahmen einzubeziehen. Die Vielfältigkeit ihrer Aktivitäten und ihr aktiver Einsatz zur Verbesserung ihrer Situation und somit auch zur Schaffung und Aufrechterhaltung friedlicher Verhältnisse erfordern, dass Maßnahmen nicht top-down für sie konzeptualisiert werden. Vielmehr müssen ihre Vorstellungen, Handlungsfähigkeiten und zentrale Rollen bei der Gestaltung dieser Maßnahmen anerkannt werden. Folglich sollten humanitäre und politische Interventionen die lokalen Friedenspraktiken Geflüchteter einbeziehen und ihre Erfahrungen in der Ausrichtung von Maßnahmen berücksichtigen. Darüber hinaus ist die Förderung ihrer Bemühungen zur Friedenskonsolidierung zentral. Gerade lokale Netzwerke, soziale Bindungen und Gemeinschaften leisten wichtige Beiträge zur (Wieder-)Herstellung eines friedlichen Miteinanders in Kontexten wie Flüchtlingslagern, die unterstützenswert sind. Auch die Bereitstellung psychologischer und sozialer Dienste, die mentale Gesundheit und emotionales Wohlbefinden im Sinne eines individuellen, emotionalen Friedens fördern, ist von entscheidender Bedeutung.
Auch für die Öffentlichkeit ist unsere Arbeit relevant. Wir beleuchten die Lebensrealitäten von Menschen in Lagern, wo prekäre Bedingungen vorherrschen. Das Verständnis für die Herausforderungen, die globalen Verflechtungen und die Bedeutungen von Frieden sind für die Öffentlichkeit und insbesondere auch für die politische Bildungsarbeit immens wichtig. Sie trägt (hoffentlich) zu einer Versachlichung der aktuell aufgeheizten Debatte um Flucht und Migration bei.
Auswahl an Publikationen aus dem Projekt
Edler, Hannah and Krause, Ulrike (2024), ‚Frieden fühlen? Emotionale (Be)Deutungen von innerem Frieden nach Konflikt und Flucht‘, Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung. Online first: Link.
Edler, Hannah, Krause, Ulrike, and Segadlo, Nadine (2024), ‚Making Sense of Peace in Exile? Displaced People’s Intersectional Perceptions of Peace‘, Peacebuilding. Online first: Link.
Edler, Hannah, Krause, Ulrike, and Segadlo, Nadine (2025), ‚‘We are creating peace’: Everyday Peace Practices of Displaced Women in Kenya and Germany‘, Conflict, Security & Development, 25 (1), 63-83. Link.
Krause, Ulrike, Edler, Hannah, and Segadlo, Nadine (2023), ‚Vielfalt von Friedens(be)deutungen in Fluchtsituationen‘, FluchtforschungsBlog, Link.
Krause, Ulrike and Segadlo, Nadine (2020), ‚Welche Bedeutungen hat Frieden für Geflüchtete?‘, FluchtforschungsBlog, Link.
Krause, Ulrike and Segadlo, Nadine (2021), ‚Conflict, Displacement… and Peace? A Critical Review of Research Debates‘, Refugee Survey Quarterly, 40 (3), 271–292. Link.
Krause, Ulrike and Segadlo, Nadine (2024), ‚Surviving Exile. LGBTQ+ Displaced People’s Lived Experiences of Aid, Risks, and Coping in Kakuma‘, Gender Issues, 41, article 26. Link.
Segadlo, Nadine (2021), ‚(Ir)Relevance of Peace? Reflecting Debates about Peace and Conflict in Forced Migration Studies‘, FluchtforschungsBlog, Link.
Segadlo, Nadine, Rugamba, Abubakar, and Maina, Wanjira (2025), ‚Building peace together: Displaced people’s collective contribution to mental well-being and peaceful coexistence in Kakuma‘, FluchtforschungsBlog, Link.